Vor vielen Jahrzehnten wohnte im Andernacher Kirchgässchen eine arme, alte Witwe mit Namen Marthe. An ihrem Haus hatte der Zahn der Zeit schon heftig genagt und das Dach war so schadhaft, dass bei jedem Regenschauer, der über der Stadt niederging, die Behausung unter Wasser stand. Jetzt, da der Herbst dunkle Wolken von Westen als Vorboten an den Rhein trieb, war die Alte der Verzweiflung nahe. Jeden Morgen, wenn sie die Heilige Messe im nahen Mariendom besuchte, hielt die Frau deshalb an dem steinernen Schmerzensmann vor dem Kloster der Franziskanerinnen inne, um dem Christusbild ihre Sorgen anzuvertrauen und ein Vater Unser zu beten. Eines Nachts erwachte Marthe unvermittelt aus ihrem leichten Schlaf. Da kletterte doch jemand auf dem Dach herum und ein andauerndes Klopfgeräusch war auch unüberhörbar. Nach einiger Zeit wurde das der ängstlichen Frau doch unheimlich. Vorsichtig öffnete sie das Schlafzimmerfenster um die Nachbarn zu alarmieren. Da bemerkte sie den Schatten einer Person auf einer Leiter vom Dach steigen und mit einer erloschenen Laterne in der Hand in Richtung Kirche verschwinden. Am nächsten Morgen staunten Marthe und die Nachbarn nicht schlecht, als sie feststellten, dass das Dach vom Haus der Witwe neu gedeckt war und die verrotteten Ziegel an der Hauswand auf dem Boden lagen. In selbiger Nacht war auf ähnlich geheimnisvolle Weise auch das Dach der Windmühle beim Kloster St. Thomas neu eingedeckt worden. Auch wusste der Fährmann am Rhein zu berichten, dass er vor zwei Nächten einen Mann mit Laterne und Leiter nach Fahr übergesetzt und einige Stunden später wieder ans Andernacher Ufer zurück gerudert hatte. Seit dieser Nacht wies auch die Feldkirche auf der rechten Rheinseite ein neues Dach auf. Sogar die schadhaften Stellen des Fährschiffes waren ohne Zutun des Fährmannes auf unerklärliche Weise behoben. Alle diese Ereignisse weckten die Neugier der Ehefrau des Schneiders im Steinweg so sehr, dass diese sich in der folgenden Nacht auf die Lauer legte. Gegen Mitternacht erspähte sie vom Küchenfenster aus den geheimnisvollen Mann mit der Laterne, als dieser vom Steinweg in das Kirchgässchen einbog. Lautlos schlich die Neugierige hinter der Gestalt her. Plötzlich blieb sie wie angewurzelt stehen, als sie sah, wie der Mann mittels Leiter das leere Podest am Klösterchen bestieg. Laut schreiend und jammernd rannte des Schneiders Frau nach Hause. Tagelang wurde sie vom Fieber geschüttelt. Erst als sie von diesen Anfällen geheilt war, wagte sie sich dem Pfarrer anzuvertrauen und den Nachbarn ihr Erlebnis mitzuteilen. Der Andernacher Schmerzensmann hat seit besagter Nacht seinen Platz aber nie mehr verlassen.
Neu erzählt nach: Stephan Weidenbach, Andernacher Volkszeitung vom 9.4.1913.