Sollte der eine oder andere Leser dieser Zeilen beabsichtigen des nachts allein oder in Begleitung auf den Feldwegen am Schmittskopf oder Gänsehals, zwei erloschenen Vulkanen nördlich des Laacher Sees, zu wandern, so kann es durchaus auch in heutiger Zeit noch geschehen, dass dem Nachtwanderer ein kleinwüchsiger, älterer, in grau gekleideter Mann begegnet, der auf dem Kopf eine graue oder blaue Mütze trägt, die dieser immerzu hin und her rückt. Wenn von diesem stumm umherwandelnden „grauen Männchen“ auch keine Gefahr ausgeht und er rasch in der Dunkelheit entschwindet, sobald er sich beobachtet fühlt, so dürfte die Geschichte, die sich hinter dieser seltsamen Erscheinung verbirgt, durchaus von Interesse sein.
Vor langer, langer Zeit lebte in Obermendig ein Mann, klein von Statur, der im Laufe der Jahre ein beachtliches Vermögen angehäuft hatte. Wie dies von statten gegangen war, beschäftigte schon seit Jahren nicht nur seine unmittelbaren Nachbarn, sondern alle Bewohner des Dorfes. Waren seine Felder und Gärten doch weder fruchtbarer, größer noch ertragreicher als die seiner Mitbürger. Auch zeigte sich das Männlein kaum fleißiger oder gar strebsamer und klüger als die übrigen Dörfler. Dennoch waren aber am Ende des Herbstes die Scheunen, Keller und Vorratskammern sowie der Geldbeutel des Kleinen weit praller gefüllt, als die aller anderen Obermendiger. Wenn er ihnen mit seinem grauen Käppchen, das er tagsüber immer auf seinen kahlen Kopf trug, und seinem grauen Gewand auf der Gasse oder in Feld und Flur begegnete, lächelte er nur verschmitzt und ging seines Wegs. In der Zeit, als unser Mann zu Vermögen gekommen war, hatten sich im ganzen Gebiet rund um den Laacher See, vornehmlich aber in Bell und Obermendig sonderbare, ja geheimnisvolle Dinge ereignet. So waren über Nacht zur Erntezeit die schönsten Äpfel und Birnen von den Obstbäumen sang- und klanglos verschwunden. Auch Trauben und Gemüse schienen Beine bekommen zu haben. Ja ganze Felder waren in der Dunkelheit abgeerntet worden, ohne dass eine Erklärung dafür ersichtlich war. Natürlich waren überall nächtliche Wachen aufgestellt worden, allein die Diebe waren nicht auszumachen. Nur auf den Grundstücken, auf denen gerade nicht Wache gehalten wurde, waren am nächsten Morgen die Spuren der Räubereien unverkennbar zu sehen. Auch wurde nie ein Verdächtiger auch nur von weitem beobachtet. Eines Nachts jedoch hörten zwei Beller Bauern, die bei einer Feldscheune Wache hielten, unvermutet Geräusche aus der Scheune, die sich so anhörten, als werde drinnen gedroschen. Als sie vorsichtig durch das Fenster blickten, sahen die beiden, dass wahrhaftig im Innern Stroh gedroschen wurde. Zu ihrem Entsetzen konnten sie jedoch niemanden erblicken, der diese Arbeit verrichtete. Hals über Kopf nahmen die Bauern Reißaus und rannten so schnell sie nur konnten nach Hause, um noch in der Nacht ihre Beobachtung allen Dorfbewohnern mitzuteilen. Wie im Fluge erfuhren auch die Einwohner der umliegenden Ortschaften davon, mit dem Ergebnis, dass sich kaum noch einer nach Sonnenuntergang nach draußen aufs Feld oder in den Garten wagte. Mit den Jahren geriet unser graues Männchen, dessen Besitz und Reichtum stetig zunahm, in den Verdacht, auf irgendeine Weise mit diesen unerhörten Räubereien und unheimlichen Vorgängen in Verbindung zu stehen. Konkrete Beweise konnte jedoch niemand erbringen. Lediglich einem Pater des Laacher Klosters offenbarte sich das Männlein, als in österlicher Zeit das Gewissen allzu sehr plagte. Vor Jahren habe er in Mayen auf dem Lukas-Markt von einem Trödelverkäufer ein graues Käppchen erworben. Seine ganzen Ersparnisse an Bargeld habe er damals für diese unscheinbare Kopfbedeckung hinlegen müssen. Den Preis habe er dem zwielichtigen Händler, dem er nachher und vorher auf keinem Markt begegnet sei, nur deshalb bezahlt, weil dieser ihm glaubhaft versicherte, dass dieses Käppi den Träger des Nachts unsichtbar mache. Wie sich bald herausstellen sollte, hatte der Verkäufer nicht gelogen. Von nun an zog unser Obermendiger sobald es dunkelte dieses graue Käppchen an und konnte unerkannt seine Raubzüge durchführen. Anfangs habe er sich nur gelegentlich an fremdem Hab und Gut vergriffen. Je reicher er dadurch aber geworden sei, desto größer sei seine Gier nach immer mehr geworden, bis er schließlich fast täglich seine Raubzüge unternommen habe. Nachdem er dies alles bei seiner Beichte vorgetragen und versprochen hatte, seinen Lebenswandel zum Guten zu ändern, legte ihm der Laacher Pater zur Buße auf, in der Klosterkirche jährlich an Ostern eine große Wachskerze zu spenden und über fünf Jahre in Obermendig und Bell das Jahresgehalt für einen Schulmeister zu zahlen, damit die Kinder dort unterrichtet werden könnten. Das graue Männchen hielt sein Versprechen nur wenige Monate ein. Kaum hatte die Zeit der Ernte begonnen, da griff er sich erneut sein graues Käppi und streifte, sobald die Sonne hinter den Laacher Bergen untergetaucht war, durch die Fluren auf der Suche nach Beute. Eines Morgens fanden ihn die Klosterbrüder in ihrem Obstgarten tot unter einem Birnbaum liegen – neben sich das graue Käppchen. Er war vom Baum gefallen, als er sich an den goldgelben Früchten vergreifen wollte. Begraben wurde er von den Brüdern auf ihrem Friedhof. Aber sogar hier fand er nicht die erhoffte Ruhe. Fast jede Nacht erschien er mit blauem oder grauem Käppchen arglosen Wanderern, denen er durch lautes Geschrei und gruselige Geräusche ganz gehörige Angst einjagte. Wenn er sein graues Käppchen trug, schleppte er auch immer einen schweren Sack auf dem Rücken mit sich herum. Diesem Furcht einflößenden Treiben Einhalt zu gebieten, baten die Bewohner der ganzen Region die Laacher Brüder um Mithilfe. So machte sich denn eines Abends der Pater, der vordem schon dem Ruhelosen die Beichte abgenommen hatte, zu einem Kreuzweg in der Nähe der Abtei auf, da an dieser Stelle das graue Männchen schon oft gesehen worden war. Fast eine ganze Stunde verharrte der Pater dort in stillem Gebet bis ihm das Gespenst erschien. Sofort packte sich der Mönch den Kleinen, schlug dreimal das Kreuzzeichen über seinem Kopf und führte ihn eilig bis auf die Höhe des Schmittskopfes. Hier erst ließ er den Grauen los und gebot ihm auf alle Zeiten an diesem Ort zu verweilen und keinen Wanderer mehr zu erschrecken. Bis heute hat sich das graue Männchen aus Obermendig an dieses Gebot gehalten.
Neu erzählt nach: Stephan Weidenbach, Andernacher Volkszeitung vom 14.6.1904