Der neue Bruder

An einem nebligen Novemberabend hatte er an der Klosterpforte um Einlass und Unterkunft gebeten. Dies war ihm gewährt worden. Eine warme Suppe in der Klosterküche löffelte er hastig, nicht ohne sich vor und nach der Mahlzeit bekreuzigt zu haben. Auch ein Nachtlager im Heu über dem Pferdestall war für den Fremden schnell gefunden. Am nächsten Morgen wünschte er den Abt zu sprechen, nicht nur um sich für Essen und Unterkunft artig zu bedanken, sondern vornehmlich um seine traurige Lebensgeschichte zu schildern und um Aufnahme in die Klostergemeinschaft zu bitten. Er wollte sein Leben neu ordnen und seinem Schöpfer und Herrgott weihen, wie er versicherte. Dieses Anliegen, still aber bestimmt vorgetragen, konnte der Abt nicht abschlagen. Da er dem Kloster aber schon lange Jahre vorstand und die Sprunghaftigkeit vieler Menschen kennen gelernt hatte, vereinbarte er mit dem Fremden, der sich ihm als Werner, der Steinmetz vorgestellt hatte, eine Bedenk- und Probezeit von drei Monaten. Sollte Werner nach Ablauf dieser Frist immer noch den Wunsch hegen, ins Kloster eintreten zu wollen, so würden sie ihn mit offenen Armen in den Kreis der Novizen aufnehmen. In diesen drei Monaten könne er sich im Kloster nützlich machen, den Alltag in der Abtei kennen lernen und seine Lebensplanung überdenken. Bereitwillig ging Werner auf den Vorschlag des Abtes ein und schlug ihm vor, zunächst einmal die Klostergebäude in Augenschein zu nehmen und nach schadhaftem Mauerwerk zu suchen. Diese Schäden könne er dann gemäß seiner Ausbildung als Steinmetz und Maurer reparieren und ausbessern. Dies hörte der Vorsteher des Klosters gerne, waren doch im Laufe der letzten Jahre mancher Mauerzug baufällig und manches Gewölbe brüchig geworden. Schon nach wenigen Tagen war der Neue in aller Munde. Nicht nur, dass er sich überall im Kloster als tüchtiger Handwerker hervortat, er verpasste auch keinen der Gottesdienste in der Kirche und konnte nicht genug über das Kloster und seine Geschichte in Erfahrung bringen. Mit Schlüsselbund und Klosterplänen in der Hand sah man ihn häufig schon vor Sonnenaufgang an den entlegensten Orten, ob Keller oder Speicher, antreffen. Sogar der ansonsten strenge Prior des Klosters war vom Fleiß und der Frömmigkeit des zukünftigen Novizen so beeindruckt, dass er ihm als Belohnung schon kurz vor Weihnachten eine eigene Zelle zuwies, in der Werner in Ruhe an seinen Plänen und Zeichnungen arbeiten konnte. Als Werner sich angeblich auf Geheiß des Abtes kurz nach Neujahr beim Klosterschmied einige Schlüssel vom Klostertor und einigen Gebäuden anfertigen ließ, erregte dies keinerlei Verdacht. Lediglich dem Bibliothekar des Klosters war aufgefallen, dass sich der Steinmetz in den letzten Tagen bei ihm  beharrlich nach Herkunft, Wert und Aufbewahrungsorten der Kelche, Monstranzen, Reliquien und anderer wertvoller Gerätschaften erkundigt hatte. Werner hatte seine Neugier damit begründet, dass der Prior ihm aufgetragen habe, für diese Kostbarkeiten in nächster Zeit eine kleine, sichere Schatzkammer zu entwerfen und zu bauen.

Die Nacht vor dem Dreikönigsfest war stürmisch und für die Jahreszeit recht mild. Voller Ungeduld saß Werner in seiner dunklen Zelle und wartete bis alle Lichter und Lampen im Kloster gelöscht waren und endlich Ruhe herrschte. Lange hatte er diese Nacht herbei gesehnt. Auf leisen Sohlen verließ er die Zelle, schlich durch den langen Gang, schloss vorsichtig die Zwischentür auf, tastete sich behutsam die Treppe hinunter, erreichte unbemerkt die kleine Seitentür und schon stand er im Freien. Am liebsten hätte er jetzt vor Freude laut geschrieen, weil sein vor Wochen ausgeheckter Plan zu gelingen schien. Aber noch musste er vorsichtig sein und Ruhe bewahren. Dank Zweitschlüssel bereitete auch das alte Gartentor, dessen Scharniere und Riegel er vorgestern noch einmal kräftig geschmiert hatte, keine Schwierigkeiten. So schnell er konnte lief Werner in Richtung Seeufer. Hier fand er den großen Fischerkahn an gewohnter Stelle im Schilf, konnte es sich nun aber nicht länger verkneifen, lauthals über die Einfalt der Klosterbrüder zu lachen. Alle waren sie seinen Schauspielkünsten auf den Leim gegangen. Dass er vor Jahren wirklich einmal das Maurer- und Steinmetzhandwerk erlernt hatte, bevor er sich einer Räuberbande angeschlossen hatte,  deren Anführer er schließlich geworden war, hatte sich nun als vorteilhaft erwiesen. Nun saß er im Kahn und ruderte mit kräftigen Schlägen über den See um seine Kumpanen, die auf der gegenüberliegenden Seite in vereinbarter Nacht auf ihn warteten, abzuholen und dann gemeinsam das Kloster zu überfallen und auszurauben. Nur noch zwei Steinwürfe vom Ufer entfernt, hielt Werner mit dem Rudern inne. Täuschend ähnlich ließ er dreimal den Ruf der Eule über das Wasser in Richtung Land erschallen. Er musste nicht lange warten bis das vereinbarte Signal von seinen Spießgesellen dort erwidert wurde. Und schon sah er sie schemenhaft zwischen Sträuchern und Bäumen auftauchen. Voller Erwartung und Gier nach großer Beute sahen sie ihren Räuberhauptmann näher kommen. Vier, fünf Ruderschläge und sein Kahn hätte das Ufer erreicht. Aber zu ihrer Verwunderung bewegte sich das Boot nicht mehr von der Stelle, obwohl sich Werner mit aller Kraft in die Riemen legte. Jetzt begann der Kahn sogar zu schaukeln und – zum Entsetzen der Räuber –  auf dem Wasser zu drehen, und das immer schneller und wilder. Werner hatte bereits die Kontrolle über das Boot vollends verloren, als eine gewaltige Wasserfontäne mit fürchterlichem Getöse den schweren Kahn samt Ruderer in den dunklen Nachthimmel empor schleuderte. Mit offenen Mündern und weit aufgerissenen Augen mussten die Gesellen mit ansehen, wie ihr Hauptmann wie ein Blatt im Wind aus dem Schiff ins Wasser geworfen und samt Kahn von der abrupt einfallenden Wassersäule in die dunkle Tiefe des Sees gerissen wurde. Erst als nur noch dumpfes, immer leiser werdendes Grollen vom Seegrund zu hören war, begannen die Bandenmitglieder, die das grausame Schauspiel wie zu Salzsäulen erstarrt hatten mit ansehen müssen,  laut zu schreien und jammern sowie in Panik wild durcheinander zu laufen. Jeder floh so schnell er konnte in eine andere Richtung, nur weg von diesem Ort, von diesem unheimlichen See. Die Mönche und das Gesinde des Klosters suchten in den folgenden Tagen vergeblich überall nach dem Steinmetz Martin. Er war verschwunden wie der Kahn am Ufer. Erst viele Jahre später erzählte ein  greiser Einsiedler, der im Wald hinter Mayen lebte, zwei Brüdern des Klosters, die auf ihrem Weg zur Nürburg in seiner Klause Schutz vor einem Unwetter gesucht hatten, die ganze Geschichte. Den Alten zu fragen, woher er dies alles so genau wisse, wagten sie nicht, konnten es sich aber denken.

Neu erzählt nach: Stephan Weidenbach, Sagen von Maria Laach dem Volksmunde entnommen. Gesammelt in Bell. Handschriftliches Manuskript im Stadtmuseum Andernach (Nachlass Weidenbach), S.26-29.

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