Es war ein wunderschöner Frühlings-Sonntagnachmittag, als ein armer Schäfer die Anhöhe von Wassenach erstieg. Der Gesang der Vögel erschallte aus dem Laacher Walde und die ersten Frühlingsblumen reckten ihr Köpfchen in die Höhe, schauend ob der böse Winter mit seinem frostigen Gefolge endlich gewichen sei. Unser armer Hirte, der sich sonst so sehr an dem Gesange der Vögel und den niedlichen Blümchen erfreuen mochte, achtete heute nicht darauf; seine Gedanken weilten bei dem Burggrafen von Rheineck, der ihm einen sehr bösen Bescheid gegeben hatte. Und weshalb? Was hatte er ihm getan? Durch die schlechte Ernte des verflossenen Jahres und durch das Unglück in seiner Schafherde hatte er ihm Martini den fälligen Zins nicht entrichten können, worauf ihm der Burggraf gedroht hatte, ihn und seine kränkliche, gute Frau und 5 hungernden Kinder aus ihrer mühsam erworbenen Hütte zu vertreiben und alles zu verkaufen. Dabei wollte er ihn auch noch seines Amtes entheben, wenn in spätestens 14 Tagen der im Herbste fällig gewesene „Tüppenzins“ nicht entrichtet wäre. Eben kam er vom Grafen, wo er um Gnade und Ausstand gebeten; aber der hatte ihm die Türe gewiesen und noch nachgerufen: „Heute in 12 Tagen wird alles verkauft und ein anderer Hirt bekommt dein Amt !“
Eine Träne perlte in dem Auge des armen Mannes, als er an sein treues Weib und seine herzigen Kinder dachte, die voll Hoffnung ihn sehnlichst erwarteten. Eben schritt er über den Kamm des Laacher Randgebirges, als ihn die Glocken des gegenüberliegenden Klosters aus seinen Gedanken aufweckten. Jetzt versammelten sich die frommen Benediktinersöhne in dem Gotteshause, um dem Herrscher über alle Welten Lob und Dank zu sagen und ihn um neue Gnaden und Wohltaten zu bitten. Unwillkürlich zog der fromme Hirte seinen schon teilweise zerrissenen Hut vom Kopfe um ein Gleiches zu tun. Wie oft schon hatte er seine Zuflucht zum Gebete genommen und Trost und Hilfe gefunden. Auch diesmal versuchte er es und betete den ganzen Abhang hinab bis zum Seeufer. Gerade sprach er wieder die Worte: „Unser tägliches Brot gib uns heute“, als ihn eine glockenhelle Stimme mit „Guten Tag“ unterbrach. Erschrocken wendete er seinen Blick dem See zu, woher der Ruf erschall und wie fest gezaubert stand er stille. Dicht am Rande des Sees, einige Schritte von ihm entfernt, saß nämlich eine wunderschöne, weißgekleidete Mädchengestalt und badete ihre Füße in den Wellen. Doch ehe er sich von seinem Schrecken und Staunen erholt hatte, sprach die mit goldenen Haaren umwallte Frauengestalt: „Ich kenne deinen Kummer und weiß auch, welchen Bescheid dir der Burggraf gegeben. Ebenso ist mir dein und der Deinigen fromm gläubiger Sinn bekannt und ich habe auch dein Beten den Berg hinunter gehört. Daher verdienst du auch, dass ich dich glücklich mache. So wisse denn: Wenn kommenden Samstagnacht die Kirchenglocke die 12. Stunde verkündet, so tritt auf dem Sommerberg (jetzt Gänsehals) in den zerfallenen Turm ein. Fürchte dich dabei aber nicht! Zwischen den Mauertrümmern wirst du eine weiße Blume finden, die du abpflücken musst. Dann wirst du sogleich alle Schätze erschauen, die der Burgkeller birgt. Davon kannst du dir nehmen, soviel dir beliebt und die du auch nach Belieben verwenden magst. Jetzt muss ich aber fort, denn meine Zeit ist verronnen.“ Ein leiser Windhauch wehte und das liebliche Mädchen mit dem feinen, blassen Gesichte war verschwunden. Sprachlos stand der Schäfer da, nicht wissend, ob er geträumt hatte, oder ob es Wirklichkeit gewesen war. Er schaute sich nach allen Seiten um, allein es war nichts mehr von der holden Gestalt zu erblicken. Ein kalter Grusel durchzog seine Glieder und doch war ihm so wohl. Er setzte seinen Weg den See entlang fort bis zum Kloster, hier trat er in die leere Kirche ein, um die Königin des Himmels zu grüßen. Dann stieg er beschleunigten Schrittes den Nikolausberg hinan seinem Heimatorte Bell entgegen. Als er in seine armselige Hütte eintrat, kniete seine gute Frau mit ihren Kindern in der Stube und betete den Rosenkranz. Bei seinem Eintritte wurde das Gebet unterbrochen und weinend und schluchzend warf sich die Frau an den Hals ihres geliebten Gatten. Sie hatte schon an seinem Gesichtsausdrucke ersehen, dass der gestrenge Burggraf keine Gnade und Barmherzigkeit kannte. Erst als die Kinder abends zu Bett gebracht waren, erzählte der Schäfer seiner Frau von dem Begegnis am See. Die Frau staunte, hatte sie doch schon gehört, dass in dem alten Turme Schätze begraben seien, die von einer schönen Jungfrau gehütet wurden. Mit bleiernen Füßen schienen die 6 Wochentage zu vergehen und als endlich der Samstagabend herangeschlichen war, trieb der Hirte seine Herde in den „Stiwwel“, überließ sie der Obhut seines treuen „Stipp“ und begab sich heim. Ihm war heute gar nicht wohl zu Mute; weshalb er beim Nachtgruße seine Kinder mehr wie sonst herzte und küsste. Als aber die Kirchenuhr die 11. Stunde verkündet hatte, nahm er seinen Hirtenstab zur Hand, empfahl sich dem Gebete seiner Frau und schlug bangend und hoffend den Weg zum Sonnenberg ein. Es war eine herrliche, stille Nacht, der Vollmond schien tageshell am Himmel und erleuchtete die Kuppen der umliegenden Berge. Langsam schritt er den Berg hinan; denn bis zur Höhe bedurfte es keine Stunde. Endlich war der Turm erreicht und sich an das alte Gemäuer anlehnend und betend, erwartete er den Glockenschlag der Uhr. Da ! auf einmal erdröhnte vom Klosterkirchturme mit dumpfen, feierlichen Klange der erste Schlag, der die geheimnisvolle Mitternachtsstunde ankündigte. Wie elektrisiert wachte der Mann auf und schaudernd und zitternd schlich er über das Steingerölle in den Turm. Als gar eine Eule, aufgeschreckt durch den ungewohnten, nächtlichen Besuch aufkreischte, fuhr der Mann blitzschnell herum, um zu fliehen. Aber das Elend seiner Familie ließ ihn den Schrecken überwinden und er wagte sich bis in die Mitte des Turmes. Da stand wirklich, von einem Mondstrahle erleuchtet, in sonderbarem Glanze, eine weiße Blume, die aus dem Steingerölle empor gesprosst war. Es war keine gewöhnliche Blume, die vor ihm stand. Sie ähnelte zwar einer Lilie, aber er kannte sie nicht. Er kannte nämlich als Hirte sonst alle Blumen, die an den sanften und steilen Abhängen der Berge, in den Schluchten und auf den Höhen wuchsen. Zaudernd und bebend betrachtete er sie, zweifelnd, ob er sie pflücken solle. Trotzdem streckte er seine Hand danach aus und tat, wie ihm geheißen worden war. Ein donnerähnlicher Knall erdröhnte und der Boden unter seinen Füßen wankte und schien einzustürzen. Wie gelähmt stand der erschrockene Hirte da und sah, wie sich die Steine auseinander schoben. Aus der Tiefe stieg die ihm bekannte, bleiche Jungfrau hervor, geschmückt mit silberbesticktem Kleide und einen Lilienkranz auf dem Haupte. In den Händen trug sie eine schwere, eiserne Truhe, die bis zum Rande mit funkelnden Goldstücken gefüllt war. Freundlich lächelnd hielt das Burgfräulein ihm die Truhe vor und winkte ihm, er möge nur zugreifen. Nur zaghaft füllte er seine Hirtentasche mit den glänzenden Münzen. Aber das Fräulein ermunterte ihn, auch noch seinen schäbigen Hut voll zu raffen. Als dies geschehen war, nickte die Jungfrau dem glückstrahlenden Schäfer zu und verschwand darauf wieder auf demselben Wege, den sie gekommen war. Totenstille umgab den Schäfer und nur die schweren Goldstücke erinnerten ihn daran, dass er nicht geträumt hatte. Rasch verließ er den Turm und eilte heim zu seinem lieben Weib, der er die Münzen in die Schürze schüttete. Nun hatte ihr Elend und ihre Not ein Ende. Am andern Tage begab sich der Hirte wieder nach Schloss Rheineck, wo er dem gestrengen Burggrafen seinen Zins entrichtete. Im selben Sommer baute die Familie sich ein neues Häuschen, der Schäfer kaufte sich Felder und Wiesen und schaffte sich eine eigene Schafherde an, er brauchte nicht mehr Gemeindehirt zu sein. Aber fromm und brav blieben er und seine Frau, und haben auch ihre Kinder so erzogen. Aus : Andernacher Volkszeitung vom 28.5.1904 und 31.5.1904